Wir fahren nach Lake Louis, der ersten Station im Banff – Nationalpark. Das hiesige Visitor Center ist sehenswert. Der Einfluss von Gletschern auf das heutige Erscheinungsbild des Nationalparks wird veranschaulicht. Ausgestopfte Tiere der Gegend sind ebenfalls zu sehen. Es ist warm, sonnig und immer noch windstill – ein goldener Herbst. Das bestärkt uns in der Entscheidung, auf dem Icefield Highway noch weiter nach Norden zu reisen. Die Fahrt führt durch die beeindruckende Hochgebirgswelt. Wir überqueren hochliegende Pässe. Ein Gefühl der Freiheit fährt mit uns. Wir sind stolz darauf, wie Charlie sich hier in der kanadischen Bergwelt schlägt.
Am Abend erreichen wir das Hostel Beauty Creek. Es besteht aus 3 Hütten und einem Plumsklo, dessen Rückwand mit einem Landschaftspanorama bemalt ist. Hier gibt es keinen Strom und kein fließendes Wasser. Diana, die Managerin ist eine resolute, zugleich nette Frau. Zunächst sind wir die einzigen Gäste. Kurz nach uns kommt Taichi, ein Japaner. Er ist mit seinem 72er VW – Bus unterwegs.
Lange nach Einbruch der Dunkelheit, wir sitzen in der Wohnküche am bullernden Kanonenofen und spielen gemeinsam mit Diana und Taichi Doppelkopf, trifft eine Gruppe Koreaner ein. Sie sind recht laut. Dann bieten sie etwas von ihrem Essensvorrat an – Kimchi – eine Art eingelegtes Gemüse. Das Zeug ist mehr als scharf. Ihre Blicke lauern auf unsere Reaktionen. Wir halten standhaft aus. Den Whiskey, mit dem wir mit ihnen anstoßen wollen, lehnen sie aus religiösen Gründen ab. Unsere Schlafhütte wird durch einen Holzofen gewärmt. Trotzdem wird es gegen Morgen empfindlich kühl. Es kostet uns Überwindung, aus dem Schlafsack zu steigen. Im unmittelbar am Hostel vorbeifließenden Beauty Creek, der seinen Namen durchaus zu recht trägt, können wir uns im wahren Wortsinn erfrischen.
Im Jasper Nationalpark bleiben wir (unerwartet) länger
Am Morgen des 27. Septembers verlassen wir Beauty Creek. Unser Ziel ist das Columbia Icefield etwa 20 km weiter südlich. Zuvor gilt es einen Pass zu erklimmen. Und das findet Charlie heute gar nicht lustig. Am ersten Anstieg schaltet das Automatikgetriebe plötzlich herunter. Kurze Zeit später überträgt es gar keine Kraft mehr. Ich lerne eine neue englische Vokabel: clutch – die Kupplung. Nun ist guter Rat – nein, die Frage nach dem „Wie teuer?“ wollen wir noch verdrängen. Wir stehen auf einem kleinen Parkplatz mit herrlicher Aussicht. Wie es weiter gehen soll, weiß zu diesem Zeitpunkt keiner von uns.
Jasper, die nächste Stadt, liegt 90 km nördlich von hier. Wir sprechen Leute an, doch niemand will uns abschleppen. Vielleicht erscheinen Charlies Ausmaße zu gewaltig, vielleicht ist es auch verboten, vielleicht sind es alles Touristen, die ihren Wagen nur gemietet haben. Es hilft uns nicht. Einer rät uns, das Auto einfach stehen zu lassen und zu trampen. Das mache man in Amerika so. Diesen Vorschlag können wir nicht mit unserem Gewissen vereinbaren. Wir sind doch hier in einem Nationalpark! Außerdem hatte sich auch die Polizei schon das Kennzeichen notiert.
Mit schleifender Kupplung wenden wir das Vehicle und bewegen uns bergab. Und Charlie tut uns den Gefallen und fährt – solange es nicht bergauf geht. So gelangen wir zurück nach Beauty Creek. Wir haben die unsinnige Hoffnung, dass sich unser Opa nur ausruhen muss und bleiben eine weitere Nacht. Am nächsten Morgen fährt Charlie ganz ordentlich die steile Auffahrt vom Hostel zur Straße hinauf, wenn auch ohne unser Gepäck, das wir erst oben einladen. Doch der nächste Anstieg belehrt uns eines besseren. Wir kehren um. Diana hilft beim Telefonieren. Wir wollen den Schaden durch einen Fachmann begutachten lassen, bevor wir entscheiden, wie es weitergehen soll.
Martin hat Oles Telefonnummer aus Deutschland mitgebracht. Ole ist der Cousin von Anja und mir. Er arbeitet seit einigen Jahren in Edmonton, also nach kanadischen Maßstäben gar nicht weit von hier – schlappe 365km. Er gibt uns den guten Tipp, den kanadischen Automobilclub anzurufen. Der könnte uns nach Jasper schleppen, wo wir weitersehen könnten. Ich hatte meine ADAC-Mitgliedschaft zwar schon gekündigt, aber sie läuft noch bis Ende November. Tatsächlich, ich brauche nur meine Mitgliedsnummer per Telefon angeben und schon ist man bereit, uns abzuholen. Der einzige negative Aspekt dabei ist, dass außer Charlie nur zwei Leute mit nach Jasper fahren können. Anja und Annett bleiben noch eine Nacht in Beauty Creek,
Martin und ich begleiten Charlie nach Jasper. Wir vereinbaren, dass wir dort im Jasper Hotel eine Nachricht hinterlassen werden, wo und wann wir uns wieder treffen können. Handy, Messenger oder ähnliche Dinge sind für uns noch außerhalb jeglicher Vorstellungskraft. Diana erklärt sich bereit, die beiden Mädels am nächsten Tag in die Stadt zu bringen. Martin und ich verbringen die Nacht im Auto.
Am nächsten Tag tritt das ein, wofür die Amerikaner die Bezeichnung worst case verwenden. Charlie braucht ein neues Getriebe. Das würde zwischen 1.300 und 1.500 Kanadischen Dollar kosten. Wir lassen die Diagnose durch zwei Werkstätten bestätigen. Annett und Anja treffen gegen Mittag ein. Sie nehmen die traurige Nachricht gefasst auf. Einstimmig beschließen wir, dass die Reparaturkosten zu hoch sind.
Wir müssen unseren treuen Gefährten verkaufen. Den einzigen Interessenten finden wir im Body Shop. Hier werden Autos lackiert. Ray und seine Angestellten sind zwar ganz nette Leute, aber sie merken recht schnell, dass wir keine andere Chance haben, als den Caddy kostenlos abzugeben. Und so sinkt der Preis, über den wir verhandeln, fast stündlich. Mittlerweile geht es darum, dass wir ihnen ein anderes Auto abkaufen sollen, damit sie Charlie übernehmen. Die Kisten, die sie uns anbieten, sind entweder zu klapprig oder zu teuer. Bei einem Kauf bliebe auch das Problem der Neuversicherung und des Wiederverkaufs in den USA. Wir kaufen nicht. Charlies Autobatterie stellt am Abend ihren Dienst ein. Nun können wir ihn gar nicht mehr bewegen. Es bleibt uns nichts weiter übrig, als uns von Charlie zu verabschieden.
Wir nehmen noch einmal Kontakt mit Ole auf. Er nimmt sich einen Tag frei und will uns ein Stück mitnehmen, um uns das Trampen zu erleichtern. Da das Wochenende vor der Tür steht, passt die Sache wunderbar. Gegen Mittag des nächsten Tages trifft er in Jasper ein und begrüßt uns mit der Nachricht, dass Heike Drechsler in Sydney gerade Olympiasiegerin im Weitsprung geworden ist. So ist das: hier unser trauriger Abschied von Charlie, auf der anderen Seite der Welt dieser große Erfolg.
Uns wird klar, dass hier an diesem Tag der erste Abschnitt unserer großen Reise endet. Es geschieht ungeplant und abrupt. Und es ist wie ein Neuanfang, eine Erfrischung, eine leichte Briese Wind, die unverhofft um die Ecke kommt und Unbekanntes ankündigt. Ab sofort reisen wir ohne eigenes Fahrzeug – nur auf uns angewiesen. Es wird eine Menge an Improvisationstalent erfordern und uns Erlebnisse bescheren, die nur passieren, wenn man sich aus seiner Komfortzone herausbewegt.
Langsam, in aller Ruhe verladen wir die Rucksäcke in Oles Auto und staunen, wie schwer sie sind. Wir wenden uns nach Süden. Es beginnt eine Tausende Kilometer lange Reise. Erst in 150 Tagen werden wir unsere Reiserichtung das nächste Mal ändern.
Am Columbia Icefield, dort wo wir schon vor 3 Tagen hinwollten, halten wir. Der Gletscher zieht sich seit Jahren zurück. Seit 1890 sind mit Schildern die Stellen markiert, bis zu denen die Gletscherstirn in den jeweiligen Jahren reichte. Wir spazieren bis an den Rand des Gletschers. Es ist strikt verboten, ihn an dieser Stelle zu betreten. Die Gletscherspalten sind lebensgefährlich, da sie unter dem Schnee kaum zu sehen sind. Mit einem Spezialbus ist es möglich, auf den Gletscher zu fahren und diese eisige Welt aus einer ganz anderen Perspektive zu betrachten.